Richard Thiess – Der Tod kennt kein Erbarmen – Wahre Fälle aus der Mordkommission

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Thiess, Richard; Der Tod kennt kein Erbarmen – Wahre Fälle aus der Mordkommission; dtv-Verlagsgesellschaft, München 2015, broschiert, DIN A 5, 206 Seiten, Preis: 14,90 €

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Nach seinen Bestsellern „Mordkommission“ und „Halt stehenbleiben! Polizei!“ legt Kriminalschriftsteller und Erfolgsautor Richard Thiess Kriminalenthusiasten sein neuestes Werk vor. Wie bereits der Titel verheißt, beruht „Der Tod kennt kein Erbarmen – Wahre Fälle aus der Mordkommission“ ausschließlich auf der Wirklichkeit. Wer Filmklischees und Romankitsch erwartet, wird enttäuscht.

Krimis faszinieren. Kaum jemand kann sich ihrer Unterhaltungskraft entziehen – mit Ausnahme der Profis, deren Aufgabe in der Bekämpfung der wirklichen Kriminalität liegt. Wer das Buch liest, darf also kein Drehbuch für einen Thriller erwarten, dafür aber authentische Berichte über das Leben und sein manchmal abruptes, unnatürliches Ende.

Das Staunen nimmt den Leser von Anfang an gefangen. Es hält ihn auf jeder Seite im Bann: Schon allein die Funktionsweise eines Mordkommissariats und einer davon zu unterscheidenden Mordkommission der Kriminalpolizei, die der Autor eingangs beschreibt, raubt Illusionen über allmächtige und allwissende „Kommissare“, für die kein Fall unlösbar ist und denen neben schier übermenschlichen intuitiven Fähigkeiten alle erforderlichen materiellen Mittel unbegrenzt zur Verfügung stehen. Nein, ein nüchtern, routiniert und bürokratisch arbeitender Apparat rückt in den rund 20 Fällen das Bild von der Arbeit einer Mordkommission in ein zutreffendes Licht. Und doch ist das Buch spannender als ein Thriller.

Nach 40-jähriger Dienstzeit bei der Polizei, davon 14 Jahre als Leiter einer Mordkommission beim Polizeipräsidium München, ist der Autor wie kaum jemand außer ihm prädestiniert, über Kapitaldelikte zu berichten. Ab Seite 165 zeichnet der Autor Fälle auf, die sein ehemaliger Kollege Raimund Eichner bearbeitet hat. Gleich auf der ersten Umschlagseite spricht der Autor aus eigenem Erleben einen der grausigsten Mordfälle an, die in Deutschland jemals verübt worden sind. Das dort nur angedeutete Geheimnis, was der zynische Mann, der im Verdacht stand, zwei kleine Mädchen bestialisch zu Tode gequält zu haben, den Kriminalbeamten mitteilen wollte, wird ab Seite 99 gelüftet. Wer diese schier unglaubliche Reportage liest, wird dem Autor zustimmen: „Manchmal möchte man nur noch schreien…“

Die einzelnen Fälle schildern erschütterndes menschliches Leid. Sie zeigen, dass es praktisch nichts gibt, „was Menschen aus Habgier oder Neid, aus gekränktem Stolz, aus Niedertracht, aus Rache oder aufgrund einer psychischen Störung nicht tun würden“, wie der Autor auf der Umschlagrückseite resümiert. Der Leser kann sich in die Geschehnisse regelrecht hineinversetzen. Stellenweise sind sie so lebensnah und plastisch geschrieben, dass man das Gefühl bekommt, Augenzeuge einer fast unwirklichen Dramatik zu sein.

Das Buch erzählt von mancherlei Kuriositäten und absonderlichen Begebenheiten, wie etwa von dem Mann, der sich mit einer speziellen Konstruktion selbst einen Pfeil in die Brust jagte (S. 165 „Mit Pfeil und Bogen“) oder von dem psychisch Kranken, der die Polizei mehr als makaber an der Nase herumführte, ohne dass es ein menschliches Opfer gab (S. 52 „Das blutige Geheimnis“).

Lesenswert ist das Buch auch, weil es über die Schilderung der polizeitaktischen Abläufe hinaus an viele menschliche Gefühle und Empfindungen rührt, und zwar solche aller Beteiligter, von den Opfern und Angehörigen über die Täter und Kriminalbeamten bis zu Außenstehender. Auch Kriminalbeamte sind nur Menschen. Es wird deutlich, dass gerade ihnen nichts Menschliches fremd ist, ja nicht fremd sein darf, auch wenn es noch so brutal erscheint oder absurd wirkt.

Ziel der polizeilichen Arbeit ist die Aufklärung von Verbrechen und die Überstellung der Täter an die Justiz. Hierfür gibt es verbindliche rechtliche Grundlagen. Der Autor versteht es meisterlich, den Leser an Tatorte, in Vernehmungszimmer und Gerichtssäle mitzunehmen und ihm die einzelnen Verfahrensschritte nahezubringen. Ein starker Rechtsstaat muss selbst den schlauesten Täter mit kriminalistischer Präzision und Routine zur Verantwortung ziehen. Den alten Kampf zwischen Räuber und Gendarm gibt es noch, wenn auch heutzutage mit anderen Mitteln als früher.

Fazit: Wer das Buch gelesen hat, hat ein beträchtliches und tiefgreifendes Stück Lebenswirklichkeit erfahren. Er reichert sein Verständnis für zwischenmenschliche Tragödien an. Und er fasst Vertrauen in eine Arbeit, die nicht jedes Mal und auf Anhieb zum gewünschten Erfolg führt. Das Buch ist nichts für schwache Nerven, aber auch nichts für Menschen, die sich an Gruselgeschichten erfreuen. Es ist ein Buch, das das Leben selbst geschrieben hat.

Rezensiert von: Frank Ebert