Johannes Kaspar, Tonio Walter, Strafen im Namen des Volkes. Rezensiert von Holger Plank

Kaspar, Johannes[1] / Walter, Tonio[2] (Hrsg.): „Strafen ‚im Namen des Volkes‘. Zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse der Bevölkerung“[3] (ISBN: 978-3-8487-5270-6 [Print] / 978-3-658-8452-9445-2 [ePDF], 286 Seiten, Nomos Verlag, Baden-Baden, Schriften zur Kriminologie, Band 15, 2019, 74.– € als Softcover)

Die beiden Herausgeber haben (internationale) Beiträge und Diskussionsberichte einer gleichnamigen Tagung an der Universität Augsburg, die im November 2018[4] stattfand, in diesem straf(-zumessungs)theoretisch äußerst lesenswerten Tagungsband[5] zusammengefasst. Titelbezogen lautet die Eingangsfrage, die sich beim geneigten Leser unmittelbar stellt: Wie ist Strafrecht, das „schärfste Schwert des Rechtsstaates“, Ultima Ratio für den Strafgesetzgeber, und Strafe im Allgemeinen dogmatisch bzw. empirisch zu rechtfertigen? Die informativen und größtenteils instruktiven Beiträge zeigen hierzu zahlreiche Ansätze auf, behandeln viele dogmatische Fragen sehr profund, ohne wirklich „die eine“ belastbare, „richtige“ Lösungen bieten zu können und lassen naturgemäß einige dogmatische Fragen und Folgerungen in der Fortfolge entwickelter Ansätze offen.

Seit jeher wird die Frage nach dem Sinn und dem legitimierenden Zweck von Strafe für normabweichendes Verhalten gestellt. Im Kern haben sich dabei zwei maßgebliche Theorielinien, z. T. parallel nebeneinander, herausgebildet, die „absoluten“ und die „relativen“ Strafzwecktheorien. Bloße Vergeltung / Sühne bzw. ein „Zweckgedanken“ sowie deren jeweilige Anteile an der Strafe standen sich dabei im Rahmen der Strafzumessung lange diametral, beinahe „unver­söhnlich“ gegenüber und beschäftigten Gelehrte seit vielen Jahrhunderten in allen Gesellschaften der Welt. Das kann man bspw. schon bei Seneca, der sich sehr klug hierzu eingelassen haben soll, nachlesen:

„Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur; revocari enim praeterita non possunt, futura prohibentur.“[6]

Fortgesetzt hat sich diese Diskussion in der deutschen Strafzwecklehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Protagonisten Franz von Liszt („Zweckgedanke“ – „relative“, spezialpräventive Strafzwecklehre à „Punitur, sed ne peccetur“[7]) und Karl Binding („Vergeltungsgedanke“ – „absolute“, generalpräventive Straf­zwecklehre à „Punitur, quia peccatum est“ [8]), die sich in dieser Frage in „er­bitterter Unversöhnlichkeit“ gegenüberstanden. Sie setzten als „jüngere“ nam­hafte strafrechtswissenschaftliche Vertreter den „Schulenstreit“ auf Grundlage der Theorien der (Rechts-)Philosophen Kant, Hegel, Feuerbach u. a., welcher – trotz des in der Folge sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus­bildenden Kompromisses in Form einer „vereinigenden Theorie“[9] – bis heute nicht wirklich befriedigend gelöst ist, fort. So greift z. B. das Bundesverfas­sungsgericht in einigen jüngeren Entscheidungen den Sühne- und Vergeltungs­gedanken im Strafrecht explizit auf[10], allerdings i. d. R. im Sinne des „gerechten Schulausgleichs“ als Strafzumessungsfaktor, der „nichts anderes als gerechte Vergeltung“ sei (Beitrag Tonio, S. 53).

Wie ist es nun aber tatsächlich um die Strafbedürfnisse und das Gerechtigkeits­empfinden der Bevölkerung bestellt? Sind diese Bedürfnisse / Phänomene mit empirischen Methoden verlässlich zu ermitteln? Lässt es sich theoretisch begrün­den (und wenn ja, wie?), dass entsprechende Erkenntnisse vom Strafgesetzgeber oder von der Strafjustiz bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen sind? Das sind wesentliche Fragen, die bei der Tagung von ausgewiesenen Experten im internationalen Kontext diskutiert und mit dem Sammelband nun auch dem in­teressierten Leser, angereichert mit neuen Erkenntnissen, weitergereicht werden.

Dabei gehen die Hrsg. (Vorwort) – in Anlehnung an Hassemer[11] und an abge­sicherte empirische Befunde – davon aus, dass

  1. Straftaten üblicherweise (auch) ein Vergeltungsbedürfnis nach sich ziehen, in welches tat- (Schwere, Höhe des Schadens etc.) bzw. schuldbezogene Kriterien einfließen und
  2. solche messbar in der Gesellschaft vorhandenen Vergeltungsbedürfnisse stafzumessungstheoretisch nicht völlig ignoriert werden dürfen

und versuchen aus dieser These einen modifizierten straftheoretischen Ansatz – fortfolgend auch über eigene Wortbeiträge (Tonio, „Grundlagen einer empirisch begründeten Vergeltungstheorie“, S. 49 – 60 / Kaspar, „Verfassungsrechtliche Aspekte einer empirisch fundierten Theorie der Generalprävention“, S. 61 – 90) in dem Band – „grob“ zu konturieren. Dieser Ansatz versucht eine „Brücke zwi­schen Prävention und Vergeltung“ zu schlagen. Sie bezeichnen ihn (in Anlehnung an Adrissek[12]) vorläufig als „retributive[13] Generalprävention“. So wird die „Ver­geltung“, als Teil dieses Konzeptes, nicht als „Zweck an sich“, sondern nur als „Zwischenziel, um das eigentliche Ziel der Stabilisierung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtsordung und letztlich in den Staat zu verfolgen“, be­trachtet. Die Hrsg. plädieren somit „ausdrücklich für ein empirisches Verständnis des Rechtsfriedens“, womit auch „die (kriminologische / soziologische) empir­ische Forschung über gesellschafliche Einstellungen zu Strafrecht und Strafe (…) an Bedeutung gewinnt“. Tonio legt insbesondere semantisch großen Wert auf die Feststellung, dass der Weg der Fundierung eines solchen Ansatzes nicht über eine nur „empirisch begründete Vergeltungstheorie“ möglich sei, sondern vielmehr eine „soziologisch begründete Vergeltungstheorie (erfordere), die an empirische Befunde anknüpft“ (S. 49), denn eine „gute, lebenswerte Gesellschaft“ benötige u. a. ein „Strafrecht, das ihrem Bestand förderlich“ sei, was eine „ersichtlich utilitaristische Frage“ darstelle. Eine solche „Gesellschaftsnützlichkeit des Strafrechts (trage) bereits die Anlage einer (soziologisch fundierten) Empirie in sich“, wobei es allerdings darauf ankomme, hierbei „nach dem Richtigen zu fragen.“ Es seien die „Gerechtigkeitsintuitionen der Menschen und nicht deren Sanktionsempfehlungen“, die hierbei zu hinterfragen seien. Dabei bezieht sich Tonio also auf den konzeptionell entscheidenden Terminus „Gerechtigkeits­intuitionen“ im Sinne Robinsons[14], der als Urheber dieses übertragenen Begriffs – im Original als „empirical desert“ – gilt.

Hier begegnet es uns also wieder, das Liszt‘ sche Konzept einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, bei dem die Kriminologie deutlich mehr ist als eine „Hilfswissenschaft des Strafrechts“, vielmehr im Rahmen eigenständiger Sank­tionswirkungsforschung wesentlich zu den kriminalpolitischen Grundlagen rechtsstaatlichen Strafrechts und zu einem interdisziplinären Austausch zwischen Strafrechtswissenschaft und Kriminologie beiträgt. Die Auswirkungen einer der­artigen „soziologisch begründeten, empirisch fundierten“ Strafzweck- und -zumessungslehre wären, worauf die Verfasser folgerichtig hinweisen, sowohl de lege lata als auch de lege ferenda schon aus Verhältnismäßigkeitserwägungen („Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“) bedeutsam, da sie Kriminalpolitik und Dogmatik veranlassen würden, bestehendes und künftiges Strafrecht „im Namen des Volkes“ zu betrachten. Tonio nennt hierfür einige Beispiele, von „gemeinnütziger Arbeit als dritter Hauptstrafe“ über „Sentencing Guidelines“ im Bestreben einer bundesweit gleichmäßigeren Strafzumessung bis hin zur „Entkriminalisierung“ (S. 58). Kaspar unterstützt Tonio bei seinen Überlegungen im Sammelband unmittelbar nachfolgend durch die Anlage einer Brücke vom Straf- hin zum Verfassungsrecht.

Dabei geht es den Autoren aber sicher nicht um das Bedürfnis unmittelbar „demoskopisch“ fundierter Strafrechtsanwendung. Hierzu sind die Strafwünsche und der jeweilige Grad gesellschaftlicher Punitivität auch zu inhomogen, zu instabil, worauf nicht nur Streng[15] in seinem Beitrag zu dem Tagungsband (S. 153 f.) hinweist. Es geht vielmehr um die strafrechtliche Schutzwürdigkeit über­individueller Rechtsgüter im Allgemeinen und die Verhältnismäßigkeit staat­lichen Strafens im engeren Sinne. In der Literatur wird das „Ultima Ratio-Prinzip“ des Strafrechts und seine Missachtung, bspw. durch eine beständige Vor­verlagerung der Strafbarkeitsschwelle (unter dem Stichwort „Präventions- oder Risikostrafrecht“), bereits seit längerem umfänglich diskutiert. Auch zu diesem Diskurs vermag der Band, trotz vieler offen bleibender Fragen, einen nachhaltigen Beitrag zu leisten.

Ungeklärt bleibt – worauf die Hrsg. in ihrem Vorwort auch explizit hinweisen -, dass sich aus der Diskussion des Ansatzes u. a. zahlreiche rechtliche, gesell­schafts- und kriminalpolitische Folgefragestellung ergeben, die man interdis­ziplinär, mit Fachleuten außerhalb der Rechtswissenschaft, bspw. mit Politik- und Medienwissenschaftlern etc. diskutieren müsste. Dazu gehört z. B. die Frage, wie Meinungsbildungsprozesse in der Gesellschaft funktionieren? Wodurch werden sie, abgesehen von der Strafrechtspraxis, geprägt und beeinflusst? So wäre insbesondere die Rolle der Medien, deren Berichterstattung zu aktuellen straf­rechtlichen Fragen, Prozessen und Phänomenen einen erheblichen Beitrag haben, aufzugreifen. Es müsse auch diskutiert werden, wie ggf. denkbarer „politischer Missbrauch“ eines solchen „empirischen Ansatzes“ verhindert werden könne.

Das ist eine der zahlreichen Stärken des Sammelbandes, die Überzeugung der Notwendigkeit einer betont interdisziplinären Herangehensweise, um neben der Rechtswissenschaft etwa Befunde der Politikwissenschaft, der Medien- und Medienwirkungsforschung u. a. Aspekte in die Strafzweck-, -zumessungs- und -wirkungsforschung einzubeziehen. Schon das ist ein bedeutender Mehrwert des interessanten Bandes, welcher in dem anhaltenden Diskurs um die Sinnhaftigkeit staatlichen Strafens signifikate Impulse setzt und schon deshalb beachtenswert ist. Der Ausblick Tonios (S. 55), „die Gesellschaft der Zukunft sei eine Gesellschaft ohne Strafrecht“, das Strafrecht sei also „nur noch eine (bis auf Weiteres not­wendige) Brückentechnologie“ bei einer derartigen soziotheoretischen Ent­wicklung, den er im Übrigen in keiner Weise „kritisch-abolitionistisch“ formu­liert, regt zum Nachdenken, zur kritischen Reflexion an und ist ein markanter Eckpunkt im Rahmen der vierzehn allesamt lesenswerten Beiträge des Bandes.

Holger Plank, im April 2020

[1] Prof. Dr. iur. Johannes Kaspar, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kri­minologie und Sanktionenrecht an der Universität Augsburg.

[2] Prof. Dr. iur. Tonio Walter, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirt­schaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht an der Universität Regensburg.

[3] Vgl. Inhaltsverzeichnis auf der Verlags-Website des Nomos Verlags, zuletzt abgerufen am 23.04.2020.

[4] Hierzu ist auch bereits ein kurzer Tagungsbericht von Cerny in der Zeitschrift KriPoZ, 2019, H. 1, S. 62 ff. erschienen.

[5] Welcher auch schon anderweitig besprochen wurde, vgl. z. B. durch Hahn auf der Plattform social.net am 06.02.2020, bzw. von Lieber in der vom Berliner Wissenschaftsverlag (BwV) verlegten Zeitschrift Richter ohne Robe (RohR), 2019, H. 4.

[6] Seneca, De Ira, in: Rosenbach (Hrsg.), Seneca, Philosophische Schriften, lateinisch und deutsch,   1. Band, Dialoge I – VI, 2010, S. 95 ff., 140/I (I, XIX, 7): „Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde; ungeschehen machen näm­lich kann man Vergangenes nicht, Zukünftiges wird verhindert.“

[7] „Bestraft wird, damit kein Unrecht geschieht.“

[8] „Bestraft wird, weil Unrecht begangen worden ist“.

[9] Das Bundesverfassungsgericht hat 1977 (1 BvL 14/76, Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe vom 21.06.1977) die strafrechtswissenschaftliche Vereinigungstheorie aufgegriffen und mit­hilfe von strafrechtswissenschaftlichen Gutachtern eigenstängig durchstrukturiert (Monten­bruck, 2020, S. 78). Kernsatz hierbei war: „Das geltende Strafrecht und die Rechtsprechung der deutschen Gerichte folgen weitgehend der Vereinigungstheorie, die – allerdings mit ver­schieden gesetzten Schwerpunkten – versucht, sämtliche Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Dies hält sich im Rahmen der dem Gesetzgeber von Verfassungswegen zukommenden Gestaltungsfreiheit, einzelne Strafzwecke anzuerkennen, sie gegeneinander abzuwägen und miteinander abzustimmen.“ Demgemäß hat das Bundes­verfassungsgericht in seiner Rechtsprechung nicht nur den Schuldgrundsatz betont, sondern auch die anderen Strafzwecke anerkannt. Es hat als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, „die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion“ bezeichnet.

[10] BVerfGE, 2 BvR 1895/05 vom 27.12.2006, Rnr. 23 m.w.N.; ferner auch BVerfGE, 2 BvR 834/02 vom 10.2.2004, Rnr. 87: „Der Begriff des Strafrechts wird jedoch weiter verstanden. Unter ihn lassen sich über repressive, vergeltende Sanktionen hinaus all diejenigen Rege­lungen fassen, durch die strafwürdiges Verhalten in seinen Voraussetzungen gekennzeichnet und mit staatlicher Sanktion bedroht wird“; BVerfGE 2 BvR 2365/09 vom 04.05.2011 zur Sicherungsverwahrung unter dem Licht der Entscheidung des EGMR, dort sogar als „gerechte Vergeltung“; im „Mauerschützenverfahren“, BVerfGE 2 BvR 1851 vom 24.10.1996;

[11] Der hierfür in seiner „Einführung in die Grundlagen des Strafrechts“ aus dem Jahr 1990 (S. 323 f.) überhaupt die „Weisheit der absoluten Lehren“ sieht und im Übrigen die Soziologie, eine der interdisziplinären Kernwissenschaften der Kriminologie, als wesentliche Bezugs­wissenschaft des Strafrechts betrachtete.

[12] Andrissek, Tobias R., „Vergeltung als Strafzweck“, 2017 (vgl. Besprechung der Dissertation von Andrissek vom 03.09.2017 im Polizei-Newsletter.

[13] Instruktiv einordnend zu dieser adjektivischen Verknüpfung der Generalprävention Bruck­mann, in KriPoZ, 2019, H. 2, S. 105 ff.

[14] Prof. Paul H. Robinson, University of Pennsylvania, Penn Law School, vgl. dessen ein­leitenden Beitrag zum Sammelband “Ein ‘Waffenstillstand‘ im Krieg der Straftheorien? Die empirisch ermittlete verdiente Strafe, moralische Glaubwürdigkeit und die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normmen“ (S. 13 – 34).

[15] Prof. em., Dr. iur., u. a. ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Kriminologie und Sanktio­nenrecht an der Friedrich Alexander-Universität Erlangen.