Fran Ross, Oreo. Rezensiert von Thomas Feltes

Fran Ross: Oreo. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch und mit Anmerkungen versehen von Pieke Biermann. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2019, 288 S., ISBN 978-3-423-28197-3, 22.- Euro (e-book 19,99 Euro)

„Die Wiederentdeckung dieses Buches und die grandiose Übertragung von Pieke Biermann ist ein Glücksfall“, so Max Czollek im Nachwort des Buches. Und dieser Glücksfall wurde gerade auf der Leipziger Buchmesse mit dem Preis für die beste Übersetzung ausgezeichnet: „Fran Ross führt ihre Leser in ein widersprüchliches Amerika. Wie Pieke Biermann diesen temperamentvollen Text voller jiddischer Anleihen und Südstaaten-Slang übersetzt hat, ist ein einziger Genuss“, so die Begründung der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse 2020 zur Preisträgerin. Andere bezeichnen das Buch als „übermütiges Meisterwerk, ungelogen einer der wunderbarsten, komischsten, intelligentesten Romane, der mir in   den letzten Jahren untergekommen ist“ (Paul Auster) oder als „mutig und experimentell“. Das ist das Buch auf jeden Fall, und wer einen „üblichen“ Roman erwartet, der wird überrascht sein – enttäuscht eher nicht, denn schon der Drucksatz macht deutlich, dass man es hier mit einem „besonderen“ Buch zu tun hat. Hier beispielsweise die Seite vor dem Inhaltsverzeichnis: 

Andere Rezensenten, die das Buch nicht mögen (ja, auch das gibt es gottseidank, alles andere wäre ja stinklangweilig!) schreiben: „Es wäre angesagt, lieber Leser, den Roman zuerst hinten aufzuschlagen, da in den beiden Nachworten … Wesentliches zum Verständnis des Buches zu finden ist. Danach blättert man natürlich wieder nach vorne[1]. Und daran ist durchaus etwas Wahres, denn demjenigen, dem beispielsweise das Jiddische nicht vertraut ist oder der nicht bereit ist, sich lautmalerisch darauf einzulassen, der wird sich tatsächlich wundern, was da manchmal so geschrieben steht. Und hier kommt nun die Übersetzerin ins Spiel: Pieke Biermann[2] macht diesen Job schon seit vielen Jahren[3]. Sie studierte deutsche Literatur und Sprache, Anglistik und politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule Hannover und an der Universität Padua. Seit 1976 arbeitet sie als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin in Berlin. Sie legte Neuübersetzungen von Romanen Agatha Christies vor, wie „Der Tod auf dem Nil“ und „Das Eulenhaus“. Bekannt wurde sie auch durch ihre eigenen Kriminalromane. 1991, 1994 und 1998 bekam sie jeweils den deutschen Krimi-Preis. Mein persönlicher Favorit ist inzwischen zum Glück wieder verfügbar: „Der Asphalt unter Berlin: Kriminalreportagen aus der Metropole“ im Pendragon-Verlag Bielefeld 2008 erschienen.

Lesenswert auch die Hinweise am Ende des Buches zur Geschichte des Jiddischen, und zu seinem Verständnis (S. 268 f.): „Am besten, man transportiert das Schrift-Bild spontan ins Akustische und hält die Ohren weit offen für allerlei Mitschwingendes“ – empfiehlt Pieke Biermann.

Oreo, die Titelheldin des Buches, ist eine jiddisch-schwarze Frau, jung, hübsch und zotig. Christine (so heißt sie eigentlich) ist sechzehn, hat eine schwarze Mutter und einen jüdischen weißen Vater und wächst auf in Philadelphia, verspottet als »Oreo« (wie der Keks, außen schwarz, innen weiß[4]) – eine doppelte Außenseiterin. Der Vater hat sich früh aus dem Staub gemacht und ihr ein Geheimnis hinterlassen, für dessen Lösung sie ihn finden muss. Also auf nach New York. Unterwegs trifft sie unglaubliche Leute: einen schwulen »Reisehenker«, der anonym Manager feuert, einen Radio-Macher, der nicht spricht, einen grotesk tumben Zuhälter und endlich auch ihren Vater. Nicht jeder ist ihr wohlgesinnt. Aber Oreo überlebt alle und alles dank ihres selbsterdachten Kampfsports WITZ, getreu ihrem Motto: »Niemand reizt mich ungestraft.« Die Geschichte von Oreo folgt der Theseus-Sage bis zum Vatergeheimnis. Aber der antike Held ist heute jüdisch, schwarz und weiblich.

Oder, um es mit den Worten von Gabriele von Arnim zu sagen: „Um es gleich zu sagen: „Oreo“ ist ein so unkonventionell überbordender Roman, dass man ein wenig Geduld braucht, um hineinzukommen. Doch dann, auf einmal, wird man erfasst von einem Sog, der einen nicht wieder frei gibt. Das Buch ist ordinär und gebildet, schnoddrig und geschliffen, Schutthalde und Ziergarten zugleich“.[5]

Das Buch ist nach genau 50 Jahren erstmals auf Deutsch erschienen. Dabei ist die Übersetzung von Pieke Biermann eine Wucht. Um nochmals Gabriele von Arnim zu zitieren: „Pieke Biermann hat dieses Werk mit Courage und großer Finesse ins Deutsche übertragen. Ein fast unmögliches Unterfangen. Denn dieser im Slang plappernde und fein gewortete Sprachfluss ist nicht nur gespickt mit historischen und literarischen Anspielungen, er spielt mit Sprachen und Kulturen, greift Themen wie Emanzipation, Prostitution, Kapitalismus oder Technologie, auf. Er ist einfach ein freches Wunder an Vielfalt, Liebenswürdigkeit und Zumutung. Als reichten sich griechische Sagenfiguren und Pippi Langstrumpf die Hand. Obszönitäten und Bibelzitate sind so ungebührliche wie wunderbare Bettgenossen. Auch die schwierigsten Themen werden gänzlich ohne Lamento, sondern mit Lust und respektlosem Witz erzählt. Man liest und grinst und lernt“.

Ja, man lernt tatsächlich bei diesem Buch, und deshalb soll es auch hier im Polizei-Newsletter vorgestellt werden. In Zeiten, wo Rassendiskriminierung wieder um sich greift, wo Antisemitismus hoffähig wird und Attentäter glauben, sich auf eine eigentlich gar nicht so „schweigende Minderheit“ in der Gesellschaft berufen zu können, wenn sie Synagogen, Politiker oder Deutsche mit Migrationshintergrund (wie in Hanau) angreifen, da lohnt es, einen Blick zurück in die USA des letzten Jahrhunderts zu werfen, wie es dieses Buch tut. Und es lohnt, sich noch einmal mit der Frage zu beschäftigen, was „schwarz“ (oder „weiß“, oder „gelb“ oder „Migrant“) eigentlich bedeutet – außer einem Label, das man Menschen aufdrückt – meistens um sie abzuwerten.

Pieke Biermann schreibt zu ihrer Verwendung des englischen Begriffes „black“, den sie mit „schwarz“ übersetzt, etwas ganz wichtiges (was zur Tabelle der „Farbklassen von Schwarzen“ auf S. 16 angemerkt wird): „Dabei möchte ich unterstreichen, dass sich dieser Begriff nicht auf die Hautfarbe, sondern auf eine gesellschaftliche Position bezieht“.[6]

Ach ja, und für alle, die dann es doch noch wissenschaftlicher wollen:

Wissenschaftler glaubten herausgefunden zu haben, dass Oreo- Kekse (ja genau, diese!) eine Abhängigkeit wie bei Kokain oder Morphium auslösen können. Die Wissenschaftler untersuchten die „Oreo-Abhängigkeit“ anhand von Laborraten. Dabei fanden sie heraus, dass der Verzehr der Kekse einen Neutronenausstoß in einer Gehirnregion auslöste, die auch als „Glückszentrum“ bekannt ist – dem Nucleus accumbens. Mit der Studie wollten die Wissenschaftler herausfinden, warum es vielen Menschen so schwerfällt, auf hochkalorische und fetthaltige Nahrung zu verzichten und haben herausgefunden, dass besonders fett- und zuckerhaltige Lebensmittel das Gehirn in derselben Weise wie Drogen stimulieren. Das könnte erklären, warum viele Menschen diesen Lebensmitteln nicht wiederstehen können, obwohl sie wissen, dass sie so schädlich sind.[7] Kein Scherz, aber auch nicht wirklich Neues, und diese inzwischen längst bekannte Tatsache wird leider von der Politik nur halbherzig umgesetzt (Stichwort „Lebensmittelampel“). Übrigens ist inzwischen auch kriminologisch der Zusammenhang zwischen Armut, niedriger Bildung, schlechter Ernährung (zu fett, zu viel Zucker, zu viel Cola) und Kriminalität anerkannt. Alles kumuliert im sozialen Status, und damit wird, nur nebenbei bemerkt, die Strafrechtsideologie ad absurdum geführt: Strafe (zumindest die staatliche) führt zur Statusabwertung (auch wenn manche Jugendliche so tun, als wenn dadurch ihr Gruppenstatus verbessert würde), Gefängnis führt zu mehr Kriminalität, und damit treiben wir durch unser Strafsystem permanent und wohlwissend den Teufelskreis von Kriminalität an.

Aber zurück zum Buch: Die Autorin, Fran Ross (1935-1985) wuchs in Philadelphia auf, nachte ihren Schulabschluss mit 15 Jahren und studierte Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Theater. 1960 zog sie nach New York, dort arbeitete sie als Korrekturleserin und Journalistin. Das Buch „Oreo“ erschien 1970, auf der Höhe des Black Power Movement[8] der 60er und 70er Jahre.

Alles in allen ein überaus interessantes, rasantes, überraschendes – aber auch anstrengendes Buch. Aber die Mühe lohnt – und kann süchtig machen. Nicht nach Keksen, sondern die braucht man bei dieser spannenden Lektüre nicht.

 

Thomas Feltes, April 2020

[1] https://wasliestdu.de/rezension/comic-ohne-comic-heft-ist-totale-geschmacksache

[2] https://www.literaturport.de/Pieke.Biermann/

[3] Eine Auswahl der von ihr übersetzten Bücher findet sich hier: https://www.overdrive.com/creators/477606/pieke-biermann

[4] Quelle des Bildes: https://de.oreo.eu/

[5] https://www.deutschlandfunkkultur.de/fran-ross-oreo-eine-juedisch-schwarze-superwoman.950.de.html?dram:article_id=459617

[6] Wer sich mehr mit den Problemen bei der Übersetzung eines Buches schaue mal hier bei meiner Besprechung des Buches von Stuart Hall, Vertrauter Fremder, nach: https://polizei-newsletter.de/wordpress/?p=1446

[7] https://www.welt.de/gesundheit/article160308061/Das-gefaehrliche-Geheimnis-der-Oreo-Kekse.html

[8] Instruktiv zu Black Power https://buergerrechtsbewegung-usa.weebly.com/black-power.html#