Barthe, Christoph, Gericke, Jan (Hrsg.): Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung. Rezensiert von Holger Plank

Barthe, Christoph[1] / Gericke, Jan[2] (Hrsg.): Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung[3],  ISBN: 978-3-406-76760-9, 3328 Seiten, C. H. Beck, München, 9., neu bearbeitete Auflage 2023, 299.- €

Das renommierte, von insgesamt 39 unmittelbar mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung befassten Kommentatorinnen und Kommentatoren[4] bearbeitete[5] Werk umfasst in der vorliegenden 9. Auflage Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum zur Strafprozessordnung, dem GVG, EGGVG und der EMRK (mindestens) auf dem Stand August 2022.

Der „KK-StPO“, mitunter auch als „BGH-Kommentar“ bezeichnet, vereint präg­nante, obergerichtlich entscheidungsorientierte Kommentierung und wissen­schaftliche Prägnanz und ist dergestalt ein äußerst gelungener Hybrid zwischen den bekannten „Kurz-“[6] und den mehr- bzw. vielbändigen „Großkommentaren“[7] zur StPO. Der „KK-StPO“ ist seit der Vorauflage um 100 Seiten „gewachsen“, was unter anderem auf die signifikante „Geschäftigkeit“ des Gesetzgebers auf dem Gebiet der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ hinweist. Seit der 8. Auflage (2019, damals 269.- Euro) weist die StPO mehr als dreißig zum Teil umfang­reiche, z. T. intensiv diskutierte[8] Novellen auf, die alle in die Neuauflage aufge­nommenen und in unterschiedlicher Dichte kommentiert sind. Zu den bedeut­samsten Änderungen gehören bspw. die Gesetze

  • über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2022, zur elektronischen Erhebung der Bankenabgabe und zur Änderung der StPO vom 25.3.2022 (BGBl. I 571),
  • zur Herstellung materieller Gerechtigkeit v. 21.12.2021 (BGBl. I 5252),
  • zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25.6.2021 (BGBl. I 2099),
  • zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16.6.2021 (BGBl. I 1810),
  • zur Verbesserung der strafrechtlichen Bekämpfung der Geldwäsche vom 9.3.2021 (BGBl. I 327),
  • zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 30.3.2021 (BGBl. I 441),
  • zur Anpassung der Regelungen über die Bestandsdatenauskunft vom 30.3.2021 an die Vorgaben aus der Entscheidung des BVerfG vom 27.5.2020 (BGBl. I 1380),
  • zur Modernisierung des Strafverfahrens (BGBl. I 2121) und zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (BGBl. I 2128) vom 10.12.2019 und
  • zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 im Strafverfahren sowie zur Anpassung datenschutzrechtlicher Bestimmungen an die Verordnung (EU) 2016/679 vom 20.11.2019 (BGBl. I 1724).

Daneben wurde auch das GVG seit der Vorauflage fünfzehn Mal geändert, u. a. mit dem Gesetz

  • zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vom 10.07.2020 (BGBl. I 1648),
  • sowie durch die oben in der ersten Aufzählung genannten Gesetze der Spiegelstriche drei und acht.

Neben dem Anpassungsbedarf durch die Aktivitäten des Gesetzgebers haben die Autoren eine Vielzahl höchstrichterlicher Entscheidungen eingearbeitet und so in vorbildlicher Weise der sich immer rasanter entwickelnden Literatur Rechnung getragen. Aus polizeilicher Sicht in besonderer Weise relevant sind hierbei bspw., um nur einige wenige polizeifachliche Anknüpfungspunkte zu nennen, die Ent­scheidung des

  • EuGH[9] zur „Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten“[10] (vgl. KK, Henrichs & Weingast, Kommentierung zu § 100g StPO, S. 527 ff.); EuGH,
  • BVerfG zur „elektronischen Aufenthaltsüberwachung“ im Rahmen der Führungsaufsicht (§§ 68b Abs. 1 Nr. 12 StGB i. V. m. § 463a Abs. 4 StPO[11]; vgl. Appl zu § 463a StPO, S. 2602 ff.),
  • BGH, 3 StR 16/22 vom 05.04.2022 zur unterbliebenen Pflichtverteidiger­bestellung vor einer polizeilichen Vernehmung (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO) und zur Verwertbarkeit derselben,
  • BGH, 5 StR 457/21 vom 02.03.2022 zur Verwertbarkeit der sog. „Encro­Chat-Daten“, insbesondere im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO)[12],
  • BVerfG, Beschluss, 1 BvR 1873/13, 1 BvR 2618/13 vom 27.05.2020 (s. o.) zur „Bestandsdatenauskunft“ (§ 100j StPO, vgl. Henrichs & Weingast, S. 538 ff.) oder auch
  • BVerfG, Beschluss, 2 BvR 675/14 vom 12.03.2019 zur Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes (§ 104 StPO, vgl. Henrichs & Weingast, S. 562).

Es wäre für einen (polizeilichen) Rezensenten vermessen den Eindruck zu er­wecken, einen renommierten Kommentar mit dem Umfang dieses Werks voll­ständig besprechen zu können. Er kann sich nur auf einige wenige ausgewählte Stichproben (z. B. die o. g.) beschränken. Schon diese Perspektive zeigt aber: Der „KK-StPO“ ist und bleibt ein qualitativ sehr hochwertiges und gleichzeitig praxis­taugliches Nachschlagewerk, welches dem „Suchenden“ bei (nahezu) jeder straf­prozessrechtlichen Fragestellung in übersichtlich Form und daher in recht kurzer Zeit erschließbar eine solide Problembewältigung ermöglicht. Zahllose relevante und – wo erforderlich – aktuelle Anknüpfungspunkte zur höchstrichterlichen Rechtsprechung, zu relevanter Literatur und Kommentierung, begleitet von einer in jeder Hinsicht überzeugenden juristischen Fachexpertise und kasuistischen Empirie der Kommentatoren und Kommentatorinnen ermöglichen aber auch dem „Forschenden“ ein tiefes Eintauchen in strafprozessrechtliche Problemstellungen jeder Art. Der Kommentar ist daher in jeder Hinsicht nicht „billig“, dennoch jeden einzelnen Cent wert.

Holger Plank (im Januar 2023)

[1] Dr. iur., Oberstaatsanwalt beim BGH und seit 2017 Richter beim „Kosovo Specialist Cham­bers and Specialist Prosecutor`s Office“, ein 2016 in Den Haag eingerichtete, mit interna­tionalen Richtern und Richterinnen besetztes Gericht, das nach kosovarischem Recht ent­scheidet und über die im Kosovo-Krieg begangenen Kriegsverbrechen urteilt.

[2] Seit 2012 Mitglied des 3. Strafsenats beim BGH.

[3] Siehe Verlags-Website von C. H. Beck; Inhaltsverzeichnis und Sachverzeichnis des Werks.

[4] Vgl. Inhaltsverzeichnis, S. 7 f., Fn. 3.

[5] Die Bearbeitungsaufteilung ist wie üblich fortlaufend nach §§ vorgenommen, vgl. Inhalts­verzeichnis, S. 9 f., Fn. 3.

[6] Bspw. dem „Beck’schen Kurz-Kommentar“ zur StPO mit GVG und Nebengesetzen, seit der 61. Auflage von Bertram Schmitt unter Mitarbeit von Marcus Köhler hrsg. und erläutert wird, vgl. kurze Besprechung der 65. Auflage 2022 vom 03.09.2022 im PNL.

[7] Z. B. dem „Löwe / Rosenberg“ (hrsg. von Becker / Erb / Esser et al im Verlag de Gruyter), dem „Systematischen Kommentar“ von (SK-StPO hrsg. von Wolter im Heymanns Verlag) oder dem „Münchener Kommentar“ (hrsg. von Knauer / Kudlich & Schneider bei C. H. Beck).

[8] Vgl. zur Fundierung dieser Aussage bspw. nur die Diskussion im Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG), der mit der Ergänzung des § 362 StPO um eine neue Nr. 5 tangiert ist (vgl. hierzu bspw. nur BVerfG, Beschluss vom 14.07.2022, 2 BvR 900/22).

[9] EuGH, Große Kammer, C-793/19 und C-794/19 („Space-Net“ und „Telekom Deutschland“) vom 20.09.2022.

[10] Das Bundesjustizministerium hat im Oktober 2022 einen ersten Referentenentwurf zu einer Neuregelung der Materie („Quick Freeze-Verfahren“, wie bereits im KoaV 2021 angekündigt) in die Ressort-Abstimmung gegeben.

[11] BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020, 2 BvR 916/11

[12] Vgl. hierzu auch BGH, 6 StR 639/21 vom 08.02.2022; das LG Berlin hat mit Beschluss vom 19.10.2022 (525 KLs) 279 Js 30/22 (8/22) die Hauptverhandlung in einem Berliner EncroChat-Verfahren auf Anregung des Verteidigers (Stefan Conen) ausgesetzt und dem EuGH die offe­nen Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2014/41 (RL-EEA) im Wege der Vorabentscheidung vorgelegt.