Luka Breneselović, Die wissenschaftskritischen Zuordnungen von Franz von Liszt. Rezensiert von Holger Plank

Luka Breneselović[1] /: „Die wissenschaftskritischen Zuordnungen von Franz von Liszt – Ein Beitrag zum Verständnis der Modernen Schule des Strafrechts“ [2]. ISBN: 978-3-428-15978-0, 583 Seiten, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, Schriften zur Rechtsgeschichte, Band 191, 2020, 119,90 € – E-Book verfügbar, 107,90 €.

Breneselović setzt sich beeindruckend tiefgreifend, methodisch diskursanalytisch und in kritischer Reflexion sowie epistemologischer Kategorisierung mit dem Menschen Franz von Liszt[3], seiner zeitgenössischen und provenienziellen Prä­gung, seinem Beitrag zu einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ und der viel­fältigen – nicht nur zeitgenössischen – Kritik[4] an seinem Wirken und seinen Werken auseinander.

Der besondere Anspruch des Buches liegt in der Einordnung der Kritiken in den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext, den Fortgang der („Modernen“) Strafrechtswissenschaft und den Einfluss, den von Liszts Werk, bekannt als „Soziologische Schule des Strafrechts“, und deren Betonung eines rationalen, spezialpräventiven Strafzwecks auf die Kriminalpolitik entfaltet(e). Von Liszts Motivation und dessen Erkenntnisse, verdichtet zu einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, welche im Ideal, das ihn antrieb, unter anderem auch aus den empirischen Daten der nicht-juristischen Kriminalwissenschaften ge­speist und legislativ beeinflusst werden sollte, hat bis heute nicht an Aktualität eingebüßt. Das zeigt sich u. a. an der aktuellen wissenschaftlichen Befassung mit einem Teil seines Vermächtnisses, der „Internationalen Kriminalistischen Verei­nigung“ (IKV), die er im Jahr 1889 zusammen mit Adolphe Prins und G. A. van Hamel begründete. Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg veranstaltet bspw. vom 30.03. – 01.04.2023, fast genau auf den Tag 142 Jahre nach der Erstausgabe der von von Liszt mitbegründeten „Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft“ im März 1881[5] unter der Leitung von Arnd Koch, der sich ebenfalls mehrfach intensiv mit von Liszt befasst hat[6], und Luka Brene­selović eine internationale Tagung zur „Europäischen Bedeutung der Interna­tionalen Kriminalistischen Vereinigung 1889 – 1919“. Der umfassende empirische, kriminalsoziologisch und -wissenschaftlich befruchtete Blick von Liszts auf die Strafrechtsdogmatik findet auch kriminalpolitisch Beachtung. So heißt es im aktuellen KoaV 2021 – 2025 der Bundesregierung (S. 86), „wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicher­heits- und Kriminalpolitik“, die durch die Gründung einer „unabhängigen inter­disziplinären Bundesakademie“ und die Erstellung einer „Überwachungsgesamt­rechnung“ auf Grundlage einer „umfassenden Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie“ u. a. auch „im Lichte technischer Entwicklungen“ flankiert werden soll.

Abgesehen von der Tiefenschärfe der Betrachtungen, der klugen Einordnung und Analyse und einer stilistisch und inhaltlich außergewöhnlichen epistemo­logischen Betrachtung ist auch der beeindruckende Umfang der von Breneselović ausgewerteten Literatur zu von Liszt mehr als bemerkenswert. Man kann sich schon deshalb der kurzen, dennoch inhaltlich sehr treffenden Einschätzung der im Jahr 2019 an der LMU vorgelgten und von Claus Roxin betreuten Dissertation Breneselović‘ durch Reinhard Moos[7] anschließen: „Nach ihrem Tiefgang und Umfang entspricht sie einer Habilitationsschrift. Sie beschreibt keinen Endpunkt der Forschung, denn Diskussionen um die Bewertungen und Kritiken des Autors werden folgen.“

An dem beeindruckenden Werk wird künftig kaum jemand, der sich mit von Liszt und seinen Überlegungen zu einer „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ oder sonst historisch bzw. juristisch zeitgeschichtlich mit ihm auseinandersetzt, vorbei­kommen!

Holger Plank, im März 2023

[1] Dr. jur., LL.M., niedergelassener Anwalt in Belgrad, zugegriffen: 23.03.2023.

[2] Zugleich Diss. iur. an der LMU München, vgl. Inhaltsverzeichnis auf der Website des Verlags Duncker & Humblot, Berlin, zuletzt abgerufen am 23.03.2023.

[3] * 02.03.1851 in Wien, + 21.06.1919 in Seeheim/Bergstraße; der Jurist, Rechtslehrer (in Graz, Gießen, Marburg, Halle und Berlin) und Kriminalpolitiker gilt als „Begründer der ‚modernen‘ Schule der Kriminalpolitik und des Modells der „Gesamten Strafrechtswissenschaft“, worunter er die doppelte Aufgabe der Strafrechtswissenschaft verstand: Nach seinem Verständnis hat sie das geltende Recht zu systematisieren (als dogmatische, juristisch-technische Disziplin) und als „Gesellschaftswissenschaft der Kriminalpolitik“ hierfür die erfahrungswissenschaftliche Basis  zu liefern (vgl. Deutsche Biographie. Zugegriffen: 23.03.2023). Zusammen mit A. Dochow begründete er 1880 die gleichnamige Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW).

[4] Vgl. hierzu bspw. die Beiträge eines Sammelbandes der Kriminalsoziologischen Biografie, 1984 (42), Heft 11, „Liszt der Vernunft“; zeitgenössisch stand im kriminologischen „Schulen­streit“ vor allem Karl Binding als Vertreter der „klassischen“ Schule den modernen Ansätzen von Liszts diametral gegenüber, vgl. bspw. nur Tichy, 2019, „Eine kriminologische Debatte über den Sinn und Zweck des Strafens. Die Positionen Karl Bindings und Franz von Liszts im Schulenstreit um 1900“, Universität Graz.

[5] Im Vorwort der Herausgeber ist zu lesen, dass die ZStW „in erster Linie Strafrecht und Strafprozess, in zweiter (…) die strafrechtlichen Hilfswissenschaften umfassend, als kriminalistisches Zentralorgan ein möglichst vollständiges und treues Bild von dem jeweiligen Stande und den Fortschritten der strafrechtlichen Gesetzgebung und Wissenschaft Deutsch­lands (…) bieten solle“.

[6] Koch / Löhning (Hrsg.), „Die Schule Franz von Liszts“, 2016, vgl. Besprechung des Sammel­bandes im PNL: https://polizei-newsletter.de/wordpress/?p=472; Koch, 2019 anl. des 100ten Todestages von Liszts in ZStW 131, Heft 2, S. 451 – 483; Koch, 2007, S. 127 ff., „Binding vs. v. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule“, in Hilgendorf / Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung;

[7] Juristische Blätter (JBL), 2021, Band 143, Heft 4, S. 275 f.