Ralph Berthel, Matthias Lapp: Kriminalstrategie. Konzepte zur Verbrechensbekämpfung. Rezensiert von Holger Plank

Berthel, Ralph[1] / Lapp, Matthias[2]: Kriminalstrategie. Konzepte zur Verbrechensbekämpfung[3], Heidelberg2024, ISBN 978 3 7832 4059 7, 247 Seiten, C. F. Müller Verlag, 28.- €.

Nach der 1. Auflage 2017 versuchen Berthel und Lapp in der vollständig überarbeiteten und ergänzten 2. Auflage dem grundlegenden Verständnis, der konzeptionellen Anlage und der angesichts der vielfältigen Herausforderungen einer nahezu vollständig digitalisierten Welt zunehmenden Bedeutung des Be­griffs „Krimi­nalstrategie“ einen „neuen Anstrich“ zu verleihen. Die Teildisziplin dürfe nicht nur „im akademischen Diskurs als integraler Bestandteil der Krimi­nalistik verstanden werden“ (S. 194)[4].

Vielmehr sei es ihre Aufgabe, sicherheits­relevante Prozesse „zu beobachten und zu analysieren, auf gesicherter, metho­disch belastbarer Grundlage Entwicklungen zu prognostizieren sowie daraus an­schlussfähige Handlungsempfehlungen abzuleiten“ (ebd.). Im Verständnis der Autoren leiste die titelgebende Teildisziplin der Kriminalistik „als Bindeglied zur Innen-, Sicherheits-, Außen- und Justizpolitik (…) Lobbyarbeit“ für die Sicher­heit der Menschen in einer zunehmend komplex erscheinenden Welt mit ihren qualitativ und quantitativ durchgängig beachtlichen neuen, häufig virtuellen Kriminalitätsformen und habe dabei – selbst bei sensibler Handhabung – einen „beachtlichen Entscheidungs- und Handlungs­spielraum“ (S. 195). Berthel stellt hierzu (an anderer Stelle[5]) pointiert u. m. E. zutreffend fest, dass es in diesem Kontext nach wie vor an einem strukturierten, meinungs­starken kriminal­strategischen Monitoring-Prozess[6], an einer deutlich wahrnehmbaren „kriminalis­tischen Stimme“ auf kriminalpolitischer Ebene fehle, der / welche „gesell­schaft­liche Entwicklungen mit kriminalistisch relevantem Kri­sen­potenzial“ u. a. in politisch maßgeblichen Diskussionsformaten begleite und analy­sieren helfe. Er wünscht sich daher auch eine nachhaltige, kriminalstrategisch fundierte (ge­sellschaftliche) Debatte über den Stellenwert der (inneren) Sicherheit und glaubt, dass – neben den hierfür originär verantwortlichen Sicherheitsbehörden – z. B. auch die Deutsche Gesell­schaft für Kriminalistik e. V. (DGfK) als Experten­gremium – bzw. als „Think Tank Kriminalistik“ (S. 130) einen sachgerechten Bei­trag leisten könne.

Hinsichtlich des Aufbaus des Buches sei an dieser Stelle auf die (nachfolgend zitierte) zutreffende Darlegung von Dienstbühl (vgl. Fn. 3), die die Gliederung als „systematisch und gut nachvollziehbar“ bewertet sowie die „gute (…), an­wendungsorientierte, [wenn auch in Teilen, Anm. HP] sehr prägnante“ Struktur zurecht hervorhebt, verwiesen:

„Die Autoren führen in Kapitel I zunächst die Bedeutung und Zielsetzung krimi­nalstrategischer Überlegungen aus, erläutern den Adressatenkreis (der sich eben nicht lediglich auf die Kriminalpolizei [im engeren Sinne, Anm. HP] bezieht) und stellen dann Gegebenheiten und (Mega-)Trends dar (u. a. Cybercrime, asym­metrische Konflikte [zunehmende Konfliktpotenziale zwischen verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft, Anm. HP] etc.), die im Spannungsfeld des öffentlichen Verständnisses (S. 10) bewältigt werden müssen. Kapitel II widmet sich kurz und knapp kriminalistischen Problemen [S. 15-17, könnte deshalb ggf. auch in ein anderes Kapitel eingegliedert werden, Anm. HP]. Kapitel III erläutert den Begriff der „Kriminalstrategie“ näher und ordnet diese prägnant in die [nicht-juristischen, Anm. HP] Kriminalwissenschaften ein. Im IV. Kapitel stellen die Autoren Geschichte und Entwicklung der Kriminalstrategie dar und zeigen dabei auf, dass die Notwendigkeit kriminalstrategischer Herangehensweisen schon früh in der Kriminalistik skizziert wurden, [die kriminalistische Subdisziplin, Anm. HP] jedoch erst Ende des 20. Jahrhunderts an Kontur gewann (S. 42 ff.). Kriminalstrategische Implikationen konnten deshalb erst in den vergangenen Jah- ren z. B. durch eingesetzte Kommissionen [unterhalb der Ebene der IMK, Anm. HP] deutlich konkreter formuliert werden (S. 56 ff.). Kapitel V erläutert Rahmenbedingungen, Einflussfaktoren und Spannungsfelder kriminalstra­tegischer Planungen. Besonders dieses Kapitel eröffnet dem [zunächst noch etwas amorph wirkenden, Anm. HP] Begriff konkrete Möglichkeiten der praktischen Umsetzung. Die Autoren widmen sich dabei einigen ausgewählten Spannungs­feldern (wie beispielsweise dem der bewusst begrenzten sicherheitsbehördlichen Ressourcen und der optimalen Aufgabenerfüllung, S. 70 f.) und zeigen damit den Korridor auf, in dem sich kriminalstrategische Überlegungen in der kriminalpolitischen Realität umsetzen lassen. Die [mit Armin Nassehi und dessen Vortrag „Öffentliche Sicherheit – eine Vertrauensfrage“ anl. der BKA-Herbsttagung 2017  illustrierte, Anm. HP] „Paradoxie der Sicherheitskom­munikation“[7], auf welche zurecht auf Seite 76 hingewiesen wird, könnte durch ein zusätzliches Kapitel oder Unterkapitel noch weiter vertieft werden. (…). In Kapitel VI wird eine Kurzübersicht verschiedener Policing Styles dargestellt. Anschließend werden die unterschiedlichen kriminalstrategischen Typologien (Kapitel VII) (…) erläutert, bevor dem Informationsmanagement (Kapitel VIII) als Teil kriminalstrategischer Planung [illustriert mit vielen nützlichen Beispielen, Anm. HP] entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dieses Kapitel ist für den praktischen Gebrauch besonders relevant, da es nicht nur Begriffe verortet, sondern vielmehr die Bedeutung und Grundlagen der strategischen [im Unterschied zur operativen, Anm. HP] Auswertung (S. 97 ff.) vermittelt und exemplarische Quellen aufzeigt. Kapitel IX wendet sich dann dem [kriminalstrategischen Entscheidungs-, Anm. HP] Prozess zu, erläutert Methoden zur Entwicklung kriminalstrategischer Konzepte und veranschaulicht, was aus welchen Gründen zu beachten ist. In tabellarischer Form stellt Kapitel X eine Übersicht von Begriffen und Themen kriminalstrategischer Konzepte dar. In der Schlussbetrachtung (Kapitel XI) werden die aktuellen Herausforderungen, in Abgrenzungen zu jenen in der ersten Auflage formulierten, als Notwendigkeit herangezogen, gerade in der polizeilichen Führung aber auch bei politisch Verantwortlichen nachvollziehbare und nachhaltige Strategieprozesse zu implementieren.“

Sucht man in dem lesenswerten, praxisorientierten und daher inhaltlich wie auch im Preis-Leistungs-Verhältnis absolut empfehlenswerten Werk nach Ergänzungs­potenzial für eine fortgeschriebene 3. Auflage (die hoffentlich keine fast sieben Jahre auf sich warten lässt), könnte sich ggf. die seit 2016[8] wachsende strategische / operative Bedeutung der Gefahrenabwehr durch

  1. den seither massiven Aufwuchs offener und verdeckter Befugnisnormen in nahezu allen Ländergefahrenabwehrgesetzen und dadurch materiell-rechtlich inzwischen gegebener weitreichender Parallelität repressiver / präventiver polizei­licher Eingriffsbefugnisse und
  2. die seit spätestens 2017 modifizierte höchstrichterliche Recht­spre­chung[9] zur Dominanzentscheidung bei Doppelfunktionalität beabsichtigter Maßnahmen

anbieten. Obwohl durchaus, wenn auch noch vereinzelt, hilfreiche Verweise auf die Doppelfunktionalität sicherheitsbehördlichen Handelns im Spannungsfeld zwischen Repression und Gefahrenabwehr gegeben werden (S. 71, 187f.), verändert die (jüngere) legislative / judikative Entwicklung auch die „strategische Ausrichtung der kriminalistischen Arbeit“ und es gilt deshalb, wie auch erwähnt: Eine „gute Kriminalstrategie berücksichtigt deshalb (…) immer (auch) präventive Aspekte“ (S. 188). Die Reichweite und Bedeutung dieser aktuell besonders beto­nenswerten, wenn auch in einer Folgeauflage inhaltlich anreicherungsbedürftigen Aussage zeigt sich sicherheitsbehördlich bereits an vielen Stellen, in der (kriminal-)polizeilichen Organisation gleichermaßen wie bei deren strate­gischer Schwerpunktsetzung und operativer Ausrichtung, in manchen Phänomenbe­reichen bereits erheblich im Vorfeld eines konkreten Verdachts einer Straftat. Diese Entwicklung zeitigt eine intensive grundlagenforschungs- und anwen­dungsorientierte kriminal­wissenschaftliche und damit auch kriminalstrategische Auseinan­dersetzung mit deren potenziellen Auswirkungen.

Brevi manu, das kriminalstrategische Kompendium gehört als Nachschlagewerk und wegen seines reichhaltigen Quellenverzeichnisses als Anknüpfungsratgeber in jedes gut sortierte kriminalwissenschaftliche Bücherregal und eignet sich zudem gut für die Verwendung in Aus- und Fortbildung auch über die polizeilichen (Aus-)Bildungseinrichtungen hinaus.

Holger Plank (im Juli 2024)

[1] Ltd. Kriminaldirektor a. D., Dipl.-Jurist, Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum, der Hochschule der Polizei Brandenburg und der Hochschule der Polizei Sachsen.

[2] Ltd. Kriminaldirektor, Leiter des Fachgebiets III.2, „Grundlagen der Kriminalstrategie“ an der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol) in Münster-Hiltrup.

[3] Zum Aufbau / zur inhaltlichen Gliederung des Buches siehe Verlags-Website mit Inhaltsverzeichnis. Vgl. hierzu auch die kurze Besprechung des Werks von Frau Prof. Dr. Dienstbühl von der Hochschule der Polizei Brandenburg, in: Kriminalistik 2024 (78), Heft 7, S. 448.

[4] Was im Übrigen lange Zeit in der Fachliteratur keineswegs selbstverständlich war (vgl. hierzu nur Hillen, o. D., Kriminalistik, in KrimLEX) und z. T. auch noch heute in der Literatur noch kein gesicherter kriminalistischer Wissensbestand zu sein scheint.

[5] Berthel, 2023, S. 21-72, in: Gundlach et al. (Hrsg.), „Kriminalistik heute – morgen – übermorgen“ (Festschrift zum 20-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Krimi­nalistik e. V.), Boorberg Verlag, Stuttgart (vgl. hierzu meine Besprechung in der Zeitschrift „Die Polizei“, 2024).

[6] „Auf das Agieren von Sicherheitsakteuren bezogen, kann man Monitoring als eine Beobachtung und Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen (auf sowohl sozio-kultureller als auch ökonomisch-technischer Ebene) bezogen auf deren (gesetzliche) Aufgaben (und potenzielle sicherheitsrelevante / kriminogene Auswirkungen derselben) kenn­zeichnen“ (S. 128).

[7] „Jede (kriminalpolitische bzw. sicherheitsbehördliche) Versicherung, man brauche sich nicht zu fürchten, transportiert zumindest rudimentär die Möglichkeit mit, dass es etwas zum Fürchten geben könnte.“ (ebd.)

[8] Im Zusammenhang mit den dezidierten Ausführungen des BVerfG zur Bedeutung der polizeilichen Gefahrenabwehr im Urteil zum BKAG vom 20.04.2016 (1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09).

[9] Z. B. i. Z. m. der Rechtsprechung des BGH (2 StR 247/16 vom 26.04.2017) zur sogenannten „legendierten Kontrolle“. Hierzu sagt der 2. Strafsenat (vgl. Rn. 37 der Entscheidung) unter Verweis auf weitere höchstrichterliche Judikatur, „Gefahrenabwehr seine eine zentrale staatliche Aufgabe, die gegenüber der Strafverfolgung eigenständige Bedeutung hat und nicht hinter ihr zurücktritt. Vielmehr stehen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung als staatliche Aufgaben mit unterschiedlicher Zielrichtung gleichberechtigt nebeneinander.“ Weiter heißt es in der Entscheidung (vgl. Rn. 30), „die Grenzen zwischen präventivem Handeln und repressivem Vorgehen können fließend sein und sich je nach Sachlage kurzfristig und kaum vorhersehbar verändern.“ So können gefahrenabwehrrechtlich gewonnene Erkenntnisse grds. im Strafverfahren verwendet werden.