Ralf Neuhaus, Heiko Artkämper, Grit Weise. Kriminaltechnik und Beweisführung im Strafverfahren. Rezensiert von Holger Plank

Ralf Neuhaus[1], Heiko Artkämper[2], Grit Weise[3]. Kriminaltechnik und Beweisführung im Strafverfahren[4].  München, C. H. Beck Verlag, 2. Auflage 2024[5], ISBN 978 3 406 79920 4, 326 Seiten, Reihe: NJW Praxis, 75.- €

Zehn Jahre nach der ersten Auflage (2014), unter (natur-)wissenschaftlich-forensischen Begebenheiten eine „halbe Ewigkeit“, haben die Autoren die wie­derum kriminalwissenschaftlich erkenntnisreiche 2. Auflage ihres kriminal­tech­nischen Kompendiums (in erster Linie) für am Strafverfahren beteiligte Ju­rist(innen) he­rausgegeben.

An der (sachgerechten) Grund­konzeption des Werks, gegliedert in einen

  1. Allgemeinen Teil[6] (S. 1-58) und einen
  2. Besonderen Teil[7] (S. 59-316)

hat sich im Vergleich zur 1. Auflage nichts geändert. Auch in Bezug auf die einzelnen Gliederungspunkte des „Besonderen Teils“ haben sich im Vergleich nur recht marginale Veränderungen ergeben.[8] Allerdings hat sich der inhaltliche Umfang des Werkes (+ 90 Seiten) signifikant (um mehr als ein Drittel) erweitert, was u. a. auf die zunehmend praxisrelevanten und daher inhaltlich deutlich erweiterten Kapiteln „Digitale Forensik“ (+ 7 Seiten), „DNA-Analyse“ (+ 16 Seiten), die neu hinzugekommenen Unterkapiteln und insbesondere auf die in der seit der ersten Auflage vergangenen Dekade enormen forensischen Fortschritte zurückzuführen ist.

Das Buch ist – anders als es der Titel vielleicht zunächst vermuten lässt – kein „klassisches“ kriminalwissenschaftliches Lehrbuch. Es stellt insbesondere für die Verteidigung (nicht nur im Rahmen der Entwicklung der Verteidigungsstrategie), aber auch für die Staatsanwaltschaft und v. a. das Tatgericht eine wertvolle, mit unzähligen praktischen Hinweisen versehene Arbeitshilfe für die kritische Ver­arbeitung komplexer kriminaltechnischer Gutachten im Er­mittlungs- und Hauptverfahren im Rahmen der sachgerechten Erforschung der abschließenden „pro­zessualen Wahrheit“ dar. Die Erläuterungen sollen im Einzelfall dabei helfen, so u. a. die Intention der Autoren, der angesichts der wissenschaftlichen Dynamik ggf. „fatalen suggestiven Wirkung des kriminaltechnischen Sach­beweises“ die Schärfe zu nehmen und „bei der Lektüre eines Gutachtens oder der Vernehmung eines Sachverständigen Störgefühle zu entwickeln (…), die sich nur dann bemerk­bar machen können, wenn man weiß, um was es in kriminalistischer Hinsicht geht.“ Dabei geht das Werk – jedenfalls in einzelnen Bereichen – in Inhalt und Tiefe deutlich über den selbst gesetzten Anspruch hinaus, „wenigstens in Grundzügen über die in der Beweisfrage angesprochenen wissenschaftlichen Grundlagen zu informieren.“ Weiterführende Quellenhinweise, in mehr als 2.100 Fußnoten spezifisch in das Werk eingebracht, eröffnen eine valide ergänzende Orientierung in der mitunter unübersichtlichen Fachliteratur. Das Buch kann aber darüber hinaus auch zur Verwendung in der po­lizeilichen Aus- und Fortbildung empfohlen werden, hilft es doch dabei, die polizeiliche Tatort- (Spurensuche, -sicherung, -verpackung und -versand sowie sachgerechte Dokumentation all dieser Umstände über den genuinen Tatortbefundbericht hinaus), die sach­verständige (kriminaltechnische) Labor­arbeit (Spurenbearbeitung, -aus­wertung und -analyse) sowie die kriminalistische Fallbearbeitung hinsichtlich der interpretativen Verarbeitung der beauftragten und gelieferten gutachtlichen Erkenntnisse innerhalb der kriminalistischen Hypothesenbildung im Allgemeinen kritisch zu reflektieren und potenzielle Fragen der Prozessbeteiligten zu anti­zipieren.

Nach dem Studium des Buches, insbesondere auf Grundlage der zahlreich eingestreuten illustrativen Beispiele interpretativer oder „handwerklicher“ Fehl­leistungen, wird angesichts der zahlreichen potenziellen (interdisziplinären) Fehler­quellen deutlich, dass trotz – oder gerade wegen – der wissenschaftlich-forensischen Dynamik die mit der Annahme eines „Zeitalters des objektiven Sachbeweises“ nachdenklich stimmende euphorische Überhöhung des (bereits etwas älteren) Diktums, dass „kriminaltechnische Beweisführung objektiv sei, nicht werte, nicht lüge, im Erinnerungsvermögen nicht nachlasse und sich nicht widerspreche“[9] zwar grundsätzlich nicht unzulässig ist, kasuistisch aber stets unter dem Vorbehalt des berechtigten Zweifels stehen sollte.[10] Den Zweifel kasuistisch zu konkretisieren, dazu liefert das vorliegende Kompendium hinreichend „Anknüpfungstatsachen“, weshalb es – trotz des nicht ganz unerheblichen, angesichts des beschriebenen Mehrwertes jedoch gerechtfertigten Anschaffungspreises – zwingend (nicht nur) in gut sortierte (universitäre) Fach­bibliotheken gehört. Für Universitäten, wo es im Rahmen der „juristischen Ausbildung (von wenigen Ausnahmen abgesehen beklagenswerter Weise nach wie vor) ganz der Initiative des / der Einzelnen überlassen bleibt, ob er / sie sich wenigstens Grundkenntnisse im Bereich der forensischen Wissenschaften ver­schafft“, gilt dies aber in besonderer Weise.

Holger Plank (im Juli 2024)

[1] Prof. Dr. iur., Fachanwalt für Strafrecht, Kanzlei nbh Strafrecht in Dortmund, Honorar­pro­fessor an der Universität Bielefeld.

[2] Dr. iur., StA als Gruppenleiter a. D. bei der StA Dortmund, Fachbuchautor, bis 2022 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik (DGfK).

[3] Richterin am Landgericht Leipzig, als Autorin und Mitherausgeberin im Vergleich mit der 1. Auflage 2014 neu.

[4] Siehe Verlags-Website mit Inhaltsverzeichnis. Das Buch ist kurz nach Erscheinen auch als Textausgabe in das Strafrechts-Modul der Fachdatenbank „beck-online“ integriert worden.

[5] Vgl. auch Inhaltsverzeichnis der 1. Auflage aus dem Jahr 2014.

[6] In welchem die Kriminaltechnik in das System der Kriminalwissenschaften und insbesondere der Kriminalistik eingeordnet, ihre immense forensische Bedeutung skizziert, Problematiken / typische Fehlerquellen dargestellt und die nach wie vor defizitäre (universitäre) Aus- und Fortbildungssituation der am Strafverfahren beteiligten Jurist(innen) beklagt sowie erste Ab­hilfemaßnahmen für einige der genannten Problemstellungen gezeichnet werden.

[7] In welchem (in insgesamt 78 Kapiteln) typische (material- bzw. stoffbezogene, natur­wissenschaftlich disziplinäre bzw. rechtsmedizinische) Spurenentstehungskonstellationen und derart spezifische Implikationen bei der Suche, Sicherung, bei der Verpackung und beim Transport, der Analyse sowie deren gutachtlicher Interpretation durch Sachverständige und die Bewertung dieser gutachtlichen Stellungnahmen durch die Verfahrensbeteiligten, kritisch-reflexiv insbesondere aus der Perspektive der Verteidigung und hinsichtlich deren Einordnung im Wege der richterlichen Überzeugungsbildung umfänglich dargestellt werden.

[8] Im Vergleich zur 1. Auflage ist a. die „Daktyloskopie“ (S. 82ff. alt) nach hinten gewandert und geht nun in dem neuen Gliederungspunkt „Finger, Hände und (unbeschuhte) Füße“ (S. 176ff. neu) auf; b. die „Geruchsspuren“ (S. 143ff. alt) sind nun thematisch um den in der Praxis inzwischen relevanteren Aspekt des „Mantrailing“ ergänzt worden (S. 191ff. neu); c. neu in die Gliederung des „Besonderen Teils“ aufgenommen wurden die Thematiken „Handyabrieb“ (S. 215ff. neu), „Linguistik (Autorenerkennung)“ (S. 229ff. neu) – wobei die Zusatz­bezeichnung „Autorenerkennung“ angesichts des grds. forensischen Potenzials der Linguistik eigentlich inhaltlich noch zu kurz greift; „Müllbeutel/Plastikfolien“ (S. 236ff. neu); die im Jahr 2021 durch Kawelovski relativ neu dokumentierte forensische Methode der im Einzelfall ggf. beachtlichen „Thermospuren (Wärme als Beweismittel im Strafverfahren)“ (S. 277ff. neu); der im dt. Strafprozessrecht nach wie vor grds. irrelevante „Polygraph (Lügendetektor)“ – vgl. hierzu u. a. Besprechung von Makepeace, „Der Polygraph als Entlastungsbeweis“, PNL, 2023; inhaltlich neu ausgerichtet wurden zudem die Glie­derungspunkte „Ohren“ (S. 237ff. neu – alt „Ohrenabdruckspuren“); „Phonetik (Stimm­erken­nung und -vergleich“, S. 243ff. neu – alt „Stimmerkennung (Phonetik)“); „Post­lieferungen“ (S. 254ff. neu – alt „Postsendungspro­file“); „Sprengstoffe und pyrotechnische Gegenstände“ (S. 274ff. neu – alt „Sprengstoffe“); „Urkunden und Schreibmittel“ (S. 287ff. neu – alt „Urkunden“); „Zähne und Bissspuren“ (S. 311ff. neu – alt „Zähne“); „Zoologie (Animal Forensics)“ (S. 314ff neu – alt „Zoologie“.

[9] Aussage des ehemaligen BKA-Präsidenten Horst Herold, in: BKA (Hrsg.), „Sachbeweis im Strafverfahren“, BKA-Vortragsreihe Bd. 24, 1979, S. 75 (77f.).

[10] Nicht nur für Kriminalisten ist der wissenschaftstheoretische Grundsatz des „Kritischen Rationa­lis­mus“ nach Popper (in: „Logik der Forschung“) bindend.