Stephanie Schmidt, Affekt und Polizei. Rezensiert von Thomas Feltes

Stephanie Schmidt, Affekt und Polizei. Eine Ethnografie der Wut in der exekutiven Gewaltarbeit. Transkript-Verlag Bielefeld 2023, 366 S., ISBN 978-3-8376-6241-2, 39.- Euro (print) 38,99 Euro (pdf).

Um es vorweg zu nehmen: Mit diesem Buch hat die Autorin ein für die Polizeiwissenschaft extrem wichtiges Werk vorgelegt – und der Transkript-Verlag ein weiteres herausragendes Buch in sein Repertoire aufgenommen. Dabei beschäftigt sich die Studie von Schmidt nicht nur mit „Wut“ bei und in der Polizei, sondern mit der Polizei insgesamt. Polizeiarbeit wird als emotionale Körperarbeit gesehen – ein wichtiger und oftmals übersehener Aspekt, den das Buch in den Vordergrund stellt. Das Werk ist die seit vielen Jahren überfällige Zustandsbeschreibung aus dem Innern einer Organisation mit Gewaltlizenz (Herrnkind/Scheerer) – und Pflichtlektüre für alle, die über Polizei reden oder schreiben.

Seit der Studie von Girtler[1] aus dem Jahr 1980 (Polizei-Alltag. Strategien, Ziele und Strukturen polizeilichen Handelns) und zumindest ansatzweise der Arbeit von Behr von 2008 (Cop Culture) ist zumindest in Deutschland kein Werk erschienen, in dem Polizei als Institution, Polizeibeamt*innen als Akteure und Polizei-Arbeit als Handlung derart dicht, genau, anschaulich und dennoch (oder besser deshalb) so analytisch zutreffend und umfassend beschrieben worden sind[2].

Dabei geht es auch um die räumlichen und zeitlichen Einordnungen, um das „Drumherum“ im ökologisch-räumlichen wie im sozialen Bereich, wodurch menschliches Handeln und damit auch das Handeln von Polizist*innen ebenso entscheidend geprägt wird wie durch die Notwendigkeit, seiner Arbeit einen Sinn zu geben. Letzteres gilt besonders in der Polizei, wo die Arbeit nicht leicht ist, sondern herausfordernd, manchmal langweilig, aber immer grenz-wertig ist im Sinne von Grenzen erreichen, Grenzen achten, Grenzen überschreiten. Schnelles Denken führt zu emotionaler Körperarbeit – so könnte man diesen Aspekt beschreiben.

Wann, warum und weshalb diese Grenzüberschreitungen und Grenzerfahrungen sich ereignen, das beschreibt und analysiert diese Studie vortrefflich. Der/die Leser*in kann jede einzelne Beobachtung und jede einzelne Analyse und Interpretation plausibel nachvollziehen, was ein besonderes Verdienst der Studie ist und darauf hinweist, dass die Autorin gute „Lehrmeister*innen“ gehabt hat. Es bleiben keine offenen Fragen, kein „diesen Rückschluss/Interpretation verstehe ich aber nicht“, kein Stirnrunzeln. Der Verfasserin gelingt es, jede der überaus vielen dichten Beschreibungen und Beobachtungen von Situationen, Interaktionen und Räumlichkeiten so zu „framen“, dass man zum einen sofort erkennt, warum sie diese Situation etc. herausgreift und warum sie diese so analysiert wie sie es tut. Die nicht eingestreuten, sondern gezielt eingebauten Zitate machen den Text nicht nur anschaulich, sondern auch spannend zu lesen[3]. Nach der Lektüre dieser Studie versteht jeder, gleich ob Anfänger oder gestandener (Polizei-)Wissenschaftler, mehr über Polizei und polizeiliches Handeln als nach vielen Jahren Praxis oder theoretischem Studium.

Methodisch liegen der Studie 43 Einzelinterviews und vier Gruppeninterviews sowie teilnehmende Beobachtungen zugrunde (S. 59). Die dabei im Vorfeld und während der Forschung entstandenen Probleme und die „tendenziell forschungsunfreundliche Grundhaltung“ in der Polizei stellt die Verfasserin treffend und ebenfalls wieder analytisch einordnend dar (S. 61 ff.). Umso erstaunlicher ist es, dass es ihr gelang, den doch recht umfassenden Zugang zu bekommen.

Und um auch dies deutlich zu machen: Das Buch ist auch ein Beispiel dafür, dass Polizei häufiger Forschung dieser Art „an sich heran“ lassen sollte, auch um sich selbst zu verstehen, vor allem aber um den Polizist*innen die Möglichkeit zu geben, durch die Lektüre der Forschungsergebnisse einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, an dem sie sich abarbeiten und ihre Handeln reflektieren können.

Denn die öffentlich geäußerte Kritik an polizeilichem Handeln führt doch (zu) oft zu systematischen Blockaden sowohl bei der Institution und ihrer politischen Führung, als auch bei einzelnen Beamt*innen. Ein Spiegel, wie er hier vorgehalten wird, kann dazu führen, dass man – unabhängig von aktuellen Situationen – Handeln reflektieren und die eigene Persönlichkeit auf den Prüfstand stellen kann. Die meisten Polizeibeamt*innen sind dazu nicht nur willens, sondern auch in der Lage, nur wird ihnen dazu selten Gelegenheit geboten, ohne dass innerbetriebliche Sanktionen, Disziplinar- oder Strafverfahren als Damoklesschwert über ihnen hängen.

Hinzu kommt, dass, wie Schmidt dies beschreibt, „(d)ie enge Verknüpfung von persönlichen Wertvorstellungen mit dem, was polizeiliche Arbeit bedeutet, …  nicht nur für die anfängliche Entscheidung zur Polizei zu gehen relevant (ist), sondern … darüber hinaus für die individuelle Sinngebung der polizeilichen Arbeit wirkmächtig“ (S. 158). Und wenn die eigene Arbeit ihren Sinn verliert oder man beginnt, daran zu zweifeln, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man verlässt den Arbeitgeber und sucht einen neuen Sinn (was im System Polizei und seiner Geschlossenheit vom ersten Tag der Ausbildung an kaum möglich ist), oder aber man wird zum institutionellen Zyniker und schafft sich seinen eigenen Sinn, seine eigene Welt, seine eigene Rechtfertigung für das was und wie man es tut – mit dem Ergebnis, dass man jegliche Distanz zum eigenen Handeln verliert.

„Erzählungen und Narrative zeigen sich so als fundamentaler Bestandteil der polizeilichen Alltagspraxis. Sie dramatisieren den Arbeitsalltag und sind sinnstiftend für die erzählenden Personen. Sie sind aber auch handlungsleitend und organisieren polizeiliche Handeln an Hand einer erzählten Gleichzeitigkeit von Langeweile und Eskalation und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf diejenigen Personen, die als verdächtig gelten. In den Erzählungen erscheinen die Polizist:innen als Teil einer übergreifenden Entität, die sich den Gefahren der Straße stellt und damit Verantwortung für die gesellschaftliche Unversehrtheit übernimmt. Damit binden sie den Einzelnen eng an die übergeordnete Institution Polizei, die »wie kaum eine andere Institution den Staat und dessen Vorstellungen von Ordnung und Sicherheit [repräsentiert]«“ (S. 31).

Dabei kann dann „Wut“ entstehen, mit der es Polizist*innen beim „Gegenüber“ und auch bei sich und ihren Kolleg*innen immer wieder zu tun haben. Diese „Wutfigurationen“ bilden den Kernbereich der Studie von Schmidt, aber die Arbeit selbst geht weit über diesen Bereich hinaus – was sie eben zu dem Werk über „die“ Polizei macht.

Die Autorin fasst dies am Ende ihres Buches so zusammen: „Wut- und Aggressivitätspraktiken konstituieren sich im polizeilichen Arbeitsalltag als Praktiken, die dazu dienen, Grenzen der normativen Ordnung zu ziehen und zu aktualisieren. Sie verweisen so nicht nur auf implizite wie explizite normative Ordnungen innerhalb der Polizei, sie treten auch hervor als kommunizierende Emotionspraktiken, die Vorstellungen einer als normativ verstandenen gesellschaftlichen Ordnung nach außen vermitteln. In diesem Sinne wirken sie nicht nur erzieherisch nach außen, sondern auch auf das normative Verständnis der Gruppe der Polizist:innen und können so vergemeinschaftende Effekte haben. Damit zeigt sich die Polizei als eine verkörperte Ordnung (die politische Ordnung des Staates), die eine andere Ordnung (die bestehende soziale gute Ordnung) verteidigt (…). In diesem Sinne werden Praktiken des doing anger der Polizei zum Kapital, durch das sie Durchsetzungsfähigkeit, Entschlossenheit und Dringlichkeit performativ darstellt. Zugleich rahmen sich damit die als maßvoll und in diesem Sinne professionell geltenden Wut- und Aggressivitätspraktiken als relevant, um im Rahmen performativ hergestellter Professionalität das Versprechen auf eine maßvolle Gewaltanwendung überhaupt erst glaubhaft zu machen“ (S. 327).

Es geht dabei auch um „Mythizismus und die fast esoterische Heroisierung des Polizeiberufs“, als sich „verantwortlich für die moralische Ordnung der Gesellschaft verstehen“ (S. 179). Schmidt gelingt es, diese, den meisten Polizeihandelnden unbewussten Faktoren zu benennen, an Beispielen deutlich zu machen und die Risiken und Nebenwirkungen herauszuarbeiten – und zwar positive wie negative. Es geht um Ehrverlust und Autoritätserhalt, und damit auch um die Frage, was die Akteur*innen antreibt und was dann im Extremfall dafür sorgt, dass Grenzen überschritten werden.

Es geht auch, wie die Autorin an anderer Stelle beschreibt, um Zorn und Voreingenommenheit, um den Bruch mit der polizeilichen Gewaltanwendung als bürokratischem Akt.

Debatten über das Handeln der Polizei fokussieren oft Fragen nach der »Angemessenheit« von Gewaltanwendung und potenzieller Grenzüberschreitungen. Die Legitimität polizeilicher Gewalt ist dabei eng an die Neutralität der Handlung gebunden. Schmidt setzt sich in ihrer Ethnografie mit diesen affektiven Komponenten der Gewaltarbeit auseinander. „Sie analysiert performative Darstellungsweisen von Wut, die als Arbeitsgegenstand und -werkzeug Bedeutung im polizeilichen Alltag erhalten. Ausgehend vom Begriff der Ordnung ermöglicht ihr emotionstheoretisch geprägter Blick, Gewaltsamkeit als Körpertechnik und damit auch als Ausdrucksform polizeilicher Arbeit zu begreifen“ (Verlagsankündigung).

Der Anspruch einer Ethnografie ist es, so beschreibt es die Autorin selbst, „zu verstehen, wie Akteur*innen die Welt deuten und wie sie diese zugleich in ihren Erzählungen und Handlungen erschaffen. In dem Buch analysiere ich daher, wie emotionale Praktiken der Wut und Aggressivität in der exekutiven Gewaltarbeit mit polizeilichen Weltdeutungen sowie organisationalen und moralischen Vorstellungen von Ordnung und Gesellschaft verwoben sind“.

Ihre Arbeit sieht sie in der fachgeschichtlichen Tradition der kulturanalytischen Emotionsforschung, die an die von Didier Fassin getroffenen Einordnung anschließt, ethnografische Forschung in der Polizei als eine ›modest but necessary contribution to democracy‹ zu verstehen. Und solche Beiträge zur Demokratisierung (auch der Polizei) brauchen wir ganz besonders derzeit.

Die hier skizzierte Konturierung des polizeilichen Feldes gibt den Rahmen vor, um aus einer emotionstheoretischen Perspektive den polizeilichen Arbeitsalltag zu lesen und anhand dessen verschiedene Aufführungsweisen des doing anger in den Blick zunehmen.“ (S. 31). Im ersten Teil geht es um Theorie und Methode der Forschung, im zweiten Teil um „Never in Anger – Neutralität, Ordnung und Emotion“ und im dritten Teil um “Policing the Anger – Arbeit und Affekt“ – oder um „performative Wut- und Aggressionspraktiken“ (S. 32). Die ausführliche Gliederung ist hier zu finden.

Schmidt stellt dabei auch in den Vordergrund, dass Polizeiarbeit Körperarbeit ist: „Was Polizist:innen dabei als kontrollierte und maßvolle Gewaltausübung gilt, ist etwas, das Polizist:innen sich durch eine umfangreiche Körperarbeit aneignen. Da Gewalt in der Polizei Arbeit ist, bedarf es einer organisationalen Einhegung von Emotionen, um eine Distanz zum Geschehen herzustellen, wie sie innerhalb der Gefühlsnormen der Polizei gefordert ist. Durch das Erlernen von Körpertechniken findet so eine für den Beruf notwendige intentionale Überformung des Körpers statt, deren Ziel es ist, Polizist:innen zu effektiven Handlungen zu ermächtigen, während sie zugleich Aggressivität lediglich als Werkzeug einsetzen. Was den Polizist:innen als maßvolle Reaktion auf das als eskalativ verstandene Handeln der anderen gilt, kann dabei durchaus gewaltvoll sowie rechtlich und moralisch maßlos sein“ (S. 326).

Was sich in der Gliederung und auch in der Verlagsankündigung vielleicht noch trocken und theorielastig liest, wird in dem Buch zu einem wahren Feuerwerk von Beobachtungen, Zitaten und Beschreibungen, die, und deshalb ist das Buch so außergewöhnlich gut und wichtig, jeweils sofort und unmittelbar analysiert und theoretisch eingeordnet werden. Damit gelingt es der Autorin, überaus anschaulich das, was in vielen eher theoretischen Auseinandersetzungen mit der Institution Polizei und ihren Protagonist*innen beschrieben wird, nachvollziehbar, begründet, und eben anschaulich und damit individuell nachvollziehbar darzustellen.

Genau dies ist der Grund, weshalb für mich das Buch von Schmidt ab sofort eines der Standardwerke zur Polizei und zum „Polizist*in-Sein“ ist.  Jede/r, der über Polizei und Polizist*innen redet und schreibt, sollte, ja muss dieses Werk gelesen haben, aber möglichst auch jede/r, der Polizist*in ist oder werden will.

Thomas Feltes, Januar 2023

[1] Girtler hat übrigens eine Reihe weiterer ethnologischen Studien vorgelegt, die man hier in KrimDok in Übersicht finden kann.

[2] Dabei gibt es durchaus wichtige Werke, die als Meilensteine der Polizeiwissenschaft angesehen werden können, wie bspw. Busch u.a., Die Polizei in der Bundesrepublik (1988) oder zuletzt das Werk von Derin und Singelnstein, Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt (2022), Besprechung im PNL hier; eine Zustandsbeschreibung (und Analyse) aus dem Inneren, wie sie hier vorlegt wird, liefert dann noch ansatzweise Oliver von Dobrowolski: »Ich kämpfe für eine bessere Polizei« (2022), Besprechung im PNL hier. Andere Arbeiten wie die von Mensching (2008), Reichertz (seit 1990) oder  Schweer u.a. (2008) wiederum beschränken sich auf bestimmte Teilbereiche polizeilicher Arbeit

[3] Insofern ist diese Studie auch eine Blaupause dafür, wie man Interviews in Qualifikationsarbeiten einbaut. Jede/r Student*in, die eine Masterarbeit oder gar Dissertation in diesem Bereich schreiben will, sollte diese Arbeit von Schmidt vorher gelesen haben – und die betreuenden Kolleg*innen sollten die Lektüre zur Pflicht machen, bevor sie die Arbeit oder das Thema vergeben.